In meiner Praxis beschäftige ich mich täglich mit den seelischen Ursachen körperlicher Symptome. Für mich steht fest: Jedes Symptom trägt auch eine seelische Komponente in sich. Und wenn wir nachhaltige Akzeptanz, Linderung oder vielleicht sogar Heilung erfahren möchten, kommen wir nicht daran vorbei, diese seelische Ebene zu betrachten. Und diese hat – fast immer – mit unterdrückten Gefühlen zu tun.
Deshalb gebe ich dir hier einen Einblick in die Welt der Gefühle und zeige dir, warum du bestimmte nicht mehr zulässt, welche Maßnahmen du entwickelt hast, um sie zu vermeiden und wie du wieder ins Fühlen kommen kannst.
Warum es wichtig ist, Gefühle zuzulassen
Gefühle, die wir in der Kindheit, meist unbewusst, weggeschlossen haben, bleiben nicht leise. Im Gegenteil. Sie werden lauter – weil sie gesehen werden wollen. Wie ein Kind, das sich laut schreiend auf den Boden wirft, weil es Aufmerksamkeit braucht.
Gefühle, die wir nicht fühlen, suchen sich meist einen anderen Weg – über den Körper. In Form von Symptomen, Verspannungen oder Erkrankungen. Und oft kommen sie nicht zaghaft und leise, sondern mit voller Wucht. Stell dir einen Schnellkochtopf vor, bei dem der Druck nicht entweichen kann: Irgendwann explodiert er. So ist es auch mit unseren Gefühlen.
Vielleicht kennst du solche Momente, in denen du plötzlich „überreagierst“. Du schreist dein Kind an, weil es etwas hat fallen lassen. Und hinterher schämst du dich. Fragst dich, was da gerade passiert ist. Die Antwort liegt häufig in einem Gefühl, das lange keinen Raum hatte und das diese kleine Situation genutzt hat, um endlich an die Oberfläche zu kommen. Wie ein Wasserball, den du unter Wasser gedrückt hast, irgendwann nicht mehr halten kannst und der mit voller Kraft nach oben schnellt.
Und dann tauchen Fragen auf:
- Warum habe ich bestimmte Gefühle überhaupt weggesperrt?
- Warum unterdrücke ich z.B. Wut?
- Warum fällt es mir so schwer, mich emotional zu kontrollieren?
Bevor wir auf diese Fragen Antworten finden, lohnt sich ein Blick zurück.
3 mögliche Gründe, warum du Gefühle nicht zulassen kannst
Aus meiner Erfahrung haben alle Menschen, die ich kenne, schon in der Kindheit unbewusst entschieden, bestimmte Gefühle lieber nicht mehr zu fühlen. Und das hatte sehr gute Gründe.
1. Gefühle wirkten bedrohlich
Viele meiner Klient:innen berichten von einem Umfeld, in dem Wut, Hass oder starke Traurigkeit präsent waren. Gefühle, die sie als „negativ“ abgespeichert haben. Vielleicht waren diese Gefühle sogar so überwältigend, dass sie Angst gemacht haben. Und in dieser Angst entstand der kindliche Entschluss: „So etwas will ich nicht fühlen. Das ist gefährlich.“ Eine kluge Schutzstrategie, die bis in die Gegenwart wirkt.
Anmerkung: Gefühle sind weder negativ noch positiv. Sie sind. Erst unsere Bewertung macht sie zu etwas „Unangenehmem“ oder „Erwünschtem“.
2. Zuviel sein mit deinen Gefühlen
Vielleicht hast du Sätze gehört wie:
- „Jetzt übertreib doch nicht.“
- „Du bist so sensibel.“
- „Reiß dich zusammen.“
- „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“
Diese Botschaften haben dich vielleicht spüren lassen: So wie du bist – mit deinen Gefühlen – bist du nicht richtig. Und weil Kinder alles tun, um geliebt und sicher zu sein, hast du begonnen, deine Gefühle anzupassen oder ganz zu verstecken.
Die Wahrheit ist: Du warst immer richtig. Mit allen Gefühlen. Aber vielleicht war dein Gegenüber überfordert – weil es sich selbst gewisse Gefühle erlaubt hat. Und so hast du gelernt: Gefühle zeigen ist gefährlich. Gefühle verstecken ist sicher.
3. Fehlende Regulation
Ein Säugling kann Gefühle aufbauen – z.B. Angst oder Wut – aber er braucht Unterstützung, um sie auch wieder abzubauen. Dafür braucht es Co-Regulation: Eine liebevolle Bezugsperson, die beruhigt, hält, streichelt, wiegt, einfach da ist. Wenn das fehlt, ist das kleine System überfordert. Und in dieser Überforderung entsteht wieder die Entscheidung: Lieber nicht mehr fühlen. Lieber abschalten.
Und auch im Erwachsenenalter ist Co-Regulation noch wichtig – solange wir dabei nicht völlig abhängig werden. Gesund ist es, wenn wir lernen, uns auch selbst zu regulieren, aber dennoch in Beziehung Menschen haben, die für uns da sind, wenn es schwer wird.
Fehlende Regulation in der Kindheit kann übrigens auch erklären, warum manche Menschen nicht gut allein sein können oder sich in Beziehungen flüchten – weil sie jemanden brauchen, der die eigenen Gefühle „mitträgt“.
Ertappt: 9 Anzeichen, dass du Gefühle fühlen vermeidest
Wir alle haben im Laufe unseres Lebens sehr clevere Strategien entwickelt, um gewisse Gefühle oder das Fühlen in der Tiefe im Allgemeinen zu vermeiden.
Die Liste, die ich dir gleich vorstelle, hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich in der einen oder anderen Strategie wiedererkennen wirst. Vielleicht zu deiner Beruhigung: Ich habe fast alle im Repertoire.
Und bitte: Verurteile dich nicht dafür. Diese Strategien haben dir mal gedient – oder sie tun es vielleicht heute noch, um dich vor Überforderung, Schmerz oder emotionalem Chaos zu schützen. Genau dafür waren sie da. Und dafür verdienen sie auch erst mal einen inneren Dank.
Versuch also, ganz ohne Bewertung auf dich zu schauen. Vielleicht sogar mit einem kleinen Schmunzeln. Und dann lies weiter, mit der Haltung: „Ach, spannend… das mache ich auch.“
1. Rationalisierung / Objektivierung
Du hast ein Problem erkannt, zum Beispiel in deiner Beziehung, und kannst es ganz sachlich erklären. Vielleicht formulierst du klug, analysierst logisch, argumentierst sogar für beide Seiten. Aber fühlst du dabei auch wirklich? Oder schützt dich der Verstand davor, mit dem Schmerz dahinter in Berührung zu kommen? Rationalisierung ist wie ein Sicherheitsgurt, der manchmal zu eng sitzt und dich vom echten Erleben abhält.
2. Mitgefühl für andere – ohne Raum für dich
Du siehst, wie schwer es dein Gegenüber hatte: deine Mutter, dein Partner, deine Chefin. Du verstehst sie, vielleicht sogar bis ins Detail. Aber wenn dein Mitgefühl so groß wird, dass du deine eigenen Verletzungen übergehst, verlierst du dich. Du darfst gleichzeitig Verständnis für andere UND Mitgefühl für dich selbst haben. Beides schließt sich nicht aus – es ergänzt sich und das Mitgefühl für dich steht an erster Stelle.
3. Dem anderen erklären, was er falsch macht
Kennst du das? Du spürst Ärger, aber statt zu fühlen, gehst du in den Kopf: analysierst, belehrst, erklärst. Dein Fokus liegt beim Gegenüber: Was müsste sich dort ändern, damit es dir besser geht? Diese Strategie lenkt von dir selbst ab, von dem, was in dir gesehen werden möchte. Oft steckt dahinter Ohnmacht oder Traurigkeit, die du nicht spüren willst.
4. Aus der Situation verschwinden
Wenn es emotional wird, ziehst du dich zurück. Du beendest Beziehungen, wechselst den Job, gehst auf Distanz – vielleicht sogar, ohne es richtig zu merken. Das Unwohlsein ist dein Signal: Hier wird es eng. Aber statt dich zu fragen, was in dir gerade eng wird, verlässt du lieber die Situation. Kurzfristig entlastend – langfristig ohne Erfolg. Du nimmst dich mit deiner Geschichte und dem, was sich zeigen will, immer mit.
5. Plötzlich müde werden
In einem Gespräch oder einer Diskussion merkst du: Dein Energiepegel rauscht in den Keller. Du könntest sofort einschlafen. Kein Zufall. Müdigkeit kann eine Schutzfunktion sein, wenn dein Nervensystem sich überfordert fühlt. Dein System sagt: „Zu viel Input, zu viel Nähe, zu viele Gefühle – Shutdown!“ Wenn du das bei dir beobachtest: Sei neugierig. Was will gerade vermieden werden?
6. Ablenkung – der Klassiker
Handy zücken, Serien schauen, arbeiten bis spät in die Nacht, scrollen, snacken, shoppen. Ablenkung ist allgegenwärtig – und sie funktioniert. Das macht sie so verführerisch. Aber sie wirkt wie ein Pflaster auf einer Wunde, die eigentlich atmen möchte. Frage dich: Flüchte ich gerade? Oder pausiere ich bewusst? Der Unterschied liegt in deiner inneren Haltung.
7. Starke Reaktionen auf Gefühle anderer
Wenn dein Gegenüber wütend, traurig oder verletzt ist – wie geht es dir damit? Reagierst du über? Wirst du selbst laut, ungeduldig oder sogar abweisend? Meist zeigt das: Da gibt es etwas in dir, das du dir selbst nicht erlaubst. Ich zum Beispiel konnte lange mit melancholischen Menschen kaum umgehen – weil ich meine eigene Melancholie nicht zulassen wollte. Je mehr du lernst, deine Gefühle anzunehmen, desto weniger triggern dich die anderer.
8. Sich um andere kümmern (statt um sich selbst)
Helfen, retten, sich kümmern – das fühlt sich sinnvoll an. Und oft ist es das auch. Aber wenn du ständig für andere da bist und dich selbst dabei vergisst, dann kann das ein Ausweichmanöver sein. Es lenkt den Blick nach außen, während dein Inneres vielleicht leise ruft: „Was ist mit mir?“ Frage dich ehrlich: Gibst du, um dich nicht fühlen zu müssen?
9. Witze machen – Humor als Schutzschild
Humor ist wertvoll – er schafft Leichtigkeit. Aber manchmal ist er auch ein Schutzmechanismus. Wenn du beginnst, über ein emotionales Thema zu witzeln, obwohl dirvielleicht zum Weinen ist, dann versuchst du, dich vor Schmerz zu retten. Ich kenne das gut: Wenn meine Coachin einen wunden Punkt trifft, ist oft mein erster Impuls ein lockerer Spruch. Inzwischen weiß ich: Dahinter liegt etwas, was gesehen werden will.
Wie du es schaffst, unterdrückte Gefühle wieder zuzulassen
Vielleicht hast du dich beim Lesen der Strategien ertappt gefühlt. Vielleicht spürst du, dass es an der Zeit ist, wieder mehr oder zum ersten Mal mit dir in Kontakt zu kommen – und damit auch mit deinen Gefühlen. Der Weg zurück ins Fühlen ist möglich. Und er darf sanft sein. Kein Durchbrechen, kein „muss jetzt aber“. Sondern ein langsames, ehrliches, achtsames Wieder-Hinschauen.
Hier drei Impulse, die dich dabei unterstützen können:
1. Akzeptanz – es gibt gute Gründe, warum du nicht fühlst
Der erste Schritt ist nicht, die Gefühle mit aller Kraft herausholen zu wollen. Der erste Schritt ist, zu verstehen und zu akzeptieren: Es gibt einen Teil in dir, der sich ganz bewusst gegen das Fühlen entschieden hat. Und zwar aus gutem Grund. Damals war es vielleicht zu viel. Zu schmerzhaft. Zu überwältigend. Das System musste dich schützen. Und das hat es getan – mit einer beeindruckenden Intelligenz.
Wenn du diesen Teil heute verurteilst („Warum kann ich das nicht?“), bringst du nur neuen Widerstand in ein altes Thema. Was es stattdessen braucht, ist Mitgefühl. Für dich selbst. Für dein Nervensystem. Für deine Geschichte. Und für alle Strategien, die dir geholfen haben, da durchzukommen.
Frage dich nicht: Warum bin ich so?
Sondern: Warum war es damals so wichtig, nicht zu fühlen und dient mir diese Entscheidung heute noch?
Akzeptanz ist keine Kapitulation. Sie ist der Anfang von echter Veränderung.
2. Geduld – du brauchst keinen Sprint, sondern einen Atemzug
Viele meiner Klient:innen wünschen sich: „Ich will das endlich lösen.“ Und ja – der Wunsch ist nachvollziehbar. Aber der Weg ins Fühlen ist kein Projekt mit Deadline. Es ist ein innerer Prozess, der Zeit braucht. Denn Gefühle, die lange weggeschlossen waren, klopfen nicht an der Tür und rufen: „Ich bin bereit!“ Sie zeigen sich langsam. In Wellen. Mal klar, mal diffus. Mal leise, mal heftig.
Und das ist in Ordnung.
Ich selbst bin seit Jahren auf diesem Weg. Und ich entdecke immer wieder neue Schichten. Neue Trigger. Neue Themen. Und ich weiß inzwischen: Das ist kein Rückschritt – sondern Tiefe. Wachstum. Entwicklung.
Du musst nicht alles fühlen.
Aber du darfst anfangen – mit einem Gefühl. Mit einem Moment. Mit einem Atemzug.
Es geht nicht darum, perfekt zu fühlen. Sondern präsent zu sein für das, was da ist – Stück für Stück.
3. Begleitung – du musst es nicht allein schaffen
Gefühle machen verletzlich. Und gerade, wenn du jahrelang gelernt hast, stark zu sein, kann das Angst machen. Deshalb ist es so wertvoll, sich jemanden an die Seite zu holen, der mit dir den Raum hält. Jemand, der mitfühlend, klar und präsent bleibt, auch wenn es in dir stürmt. Der dich nicht überfordert, sondern begleitet. Der dich nicht analysiert, sondern sieht.
Das kann eine therapeutische Begleitung sein, ein geschützter Workshopraum oder ein vertrautes Gegenüber, das wirklich da ist – ohne Ratschlag, ohne Lösung, einfach mit offenem Herzen.
Begleitung bedeutet nicht, dass du schwach bist.
Begleitung bedeutet, dass du dich selbst ernst nimmst.
Vielleicht ist mein Workshop Gefühle fühlen ein passender erster Schritt für dich. Ein Raum, in dem du dich in deinem Tempo annähern kannst – achtsam, sanft, getragen.
Fazit: Gefühle wieder zulassen – dein Weg zu mehr Lebendigkeit
Gefühle sind keine Schwäche. Sie sind dein innerer Kompass. Wenn du beginnst, ihnen wieder Raum zu geben, kommt auch dein Leben mehr in den Fluss. Es wird echter, tiefer, verbundener.
Du musst nicht alles auf einmal fühlen. Aber du darfst anfangen – Schritt für Schritt.
Und wenn du dabei nicht allein sein willst: Ich begleite dich gern.